„Zunächst scheint es für Diskursforscher*innen und Linguist*innen nicht unmittelbar klar zu sein, was diese Wissenschaften zu den großen Herausforderungen unserer Zeit beitragen könnten. Als Sozialwissenschaftler*innen haben wir natürlich einen anderen Zugang, als Naturwissenschaftler*innen, die sich bis vor Kurzem in einem ‚race to the top‘ befanden – nämlich entweder das erste gute Medikament oder die erste wirksame Impfung gegen COVID-19 zu erfinden. Das können wir nicht leisten.
Vielmehr besitzen wir einen ganz anderen Zugang zu den komplexen Problemen unserer Zeit, zu den vielen Krisen, in denen sich unsere Gesellschaften befinden: Dies betrifft sowohl die Klimakrise wie auch die Corona-Krise. Wir interessieren uns nämlich dafür, wie verschiedenste Protagonisten (Politiker*innen, Journalist*innen, Expert*innen und die Zivilgesellschaft) mit solchen Krisen umgehen; welche Lösungsansätze diskutiert werden; wie diese von wem erklärt werden; und auch, wie solche Krisen von verschiedensten politischen Positionen und den Medien instrumentalisiert werden. Darüber hinaus interessiert, welche Wirkung solche Diskurse zeitigen und zu welchen Handlungen aufgefordert wird.
Beide Krisen verlangen ein gesellschaftliches Umdenken; sie betreffen uns alle – ohne Unterschied von Klasse, Ethnie, Geschlecht, Religion, Beruf oder Alter – weltweit; und beide Phänomene bedingen große Ein- und Beschränkungen unserer bisherigen Konsumgesellschaften und Konsumgewohnheiten. Krisen bedingen auch ein viel schärferes Wahrnehmen von Ungleichheiten; vieles, was unhinterfragt ist, wird plötzlich hinterfragt. Kein Stein bleibt auf dem Anderen.
Solche gesellschaftlichen Prozesse brauchen eine sorgfältige Begleitung, Dokumentation und Reflexion. Wir wollen ja verstehen, was sich abspielt und warum bestimmte Handlungen erfolgreicher sind als andere – etwa bei der Krisenkommunikation. Mit letzterer beschäftige ich mich, vor allem im Vergleich der Versuche verschiedenster Regierungen, Bürger*innen von Maßnahmen zu überzeugen, die sie selbst und ihre Grundrechte einschränken. Eine solche Studie weist beispielsweise auf, welche persuasiven Strategien angewandt werden bzw. angewandt werden könnten.
Schon erste Pilotstudien erweisen große Unterschiede zwischen der österreichischen, italienischen, deutschen und französischen Regierungen und deren Premiers bzw. den jeweiligen Staatspräsidenten. Hinzu kommt die Kommunikation aus „Brüssel“: Die Rolle der EU steht im Spannungsfeld zwischen Nationalstaaten und transnationalen wie globalen Tendenzen. All dies bedeutet, dass wir differenziert und systematisch versuchen, nachzuvollziehen und zu verstehen, in welche Richtungen wir uns bewegen und was dies jeweils im Einzelnen für uns lokal, regional und national bedeuten wird.
Unsere Aufgabe besteht auch darin, solche wissenschaftliche Reflexionsprozesse verständlich in anderen Textsorten zu publizieren – denn solche Überlegungen könnten vielen Menschen helfen, mit Unsicherheiten aufgrund der Krisensituationen besser umzugehen.
Ohne solche Reflexion bleiben wir ohnmächtig und verlieren unsere Handlungsfähigkeit. Daher besitzen die Sozial- und Kulturwissenschaften sehr relevante Aufgaben, in Gegenwart und Zukunft.“
Ruth Wodak ist Sprachwissenschaftlerin. Die Professorin der Lancaster University und der Universität Wien beschäftigt sich vor allem mit dem Bereich der kritischen Diskursanalyse. 2011 wurde die Wittgenstein-Preisträgerin mit dem Großen Silbernen Ehrenzeichen für Verdienste um die Republik Österreich ausgezeichnet. Ihre rezentesten Bücher umfassen unter anderem „Politik mit der Angst. Die schamlose Normalisierung rechtspopulistischer und rechtsextremer Diskurse.“ und „Österreichische Identitäten im Wandel“.