Seit der Mensch existiert, sucht er nach dem, was wir „Wahrheit“ nennen. Er versucht die Wirklichkeit zu verstehen, er versucht sie zu finden, er sucht verschiedene Perspektiven auf die Welt, wie sie ist. Diese Erkenntnisse, nach strengen formalen und vor allem für alle nachvollziehbaren Regeln gewonnen, sollen dann im täglichen Leben dem Menschen nützen.
Nicht nur in der Medizin, der ich mein Leben gewidmet habe, sondern auch vor allem auch wenn es um die Rechtsprechung geht, erwarten sich die Bürger eine vorurteilsfreie Suche nach Wahrheit und Erkenntnis.
Genau deshalb suchen Juristen bei der Klärung der ihnen anvertrauten Fälle die Hilfe von Sachverständigen, etwa Gerichtsmedizinern. Im Auftrag des Gerichtes sollen sie Tatsachen erheben und mit ihrer Expertise bewerten. Der Sachverständige setzt seine Sachkunde dazu ein, um auf wissenschaftlicher Grundlage Schlüsse zu ziehen und diese dem Gericht kundzutun. Seine Schlüsse müssen für alle nachvollziehbar sein.
Vor allem wenn es zur Aufklärung von Verbrechen – insbesondere gegen Leib und Leben – kommt, erwartet sich die Gesellschaft zu Recht eine vorurteilsfreie und nachvollziehbare Klärung der Umstände durch Experten, deren Beurteilung keine Zweifel offen lassen darf. Sonst funktioniert die Friedensfunktion des Rechts nicht.
Schon im 16. Jahrhundert hatten die Herrschenden das erkannt. Kaiser Karl V erließ anno 1532 die Constitutio Criminalis Carolina, eine Art Strafprozessordnung. In ihrem Paragraf 149 regelt sie die „Besichtigung eines Entleibten vor der Begraebnuß“ . Sie schreibt die Beiziehung von „einem oder mehr Wundaerzten“ vor, um die näheren Umstände des des Todes zu klären. Auch in Fragen von ärztlichen Kunstfehlern, musste der „Rath der Verstaendigen“ eingeholt werden, falls „so ein Arzt durch sein Arzeney toedtet“. Wir sehen also: medizinischen Sachverständigen und ihrem wissenschaftlich-universitärem Wirken wurde schon vor 500 Jahren eine sehr hohe Wertschätzung entgegengebracht. Nicht Aberglaube, sondern Empirie war gefragt.
Dieses Vertrauen ist vor allem auch ein Auftrag an die Wissenschaft. Es ist eine Verpflichtung zur professionellen Ergründung der Wahrheit im Dienste der Menschheit und – es mag pathetisch klingen – der Gerechtigkeit. Auch deshalb besteht seitens der Bevölkerung großes Vertrauen gegenüber gerichtlichen Sachverständigen.
Nun leben wir in einer Welt, die die wissenschaftlichen Standards als Grundlage der Wahrheitsfindung sehr hoch gesetzt hat. Zugleich stehen nicht zu unterschätzende Teile der Bevölkerung der Wissenschaft zunehmend kritisch, ja gehässig gegenüber. Auch das Vertrauen in die Wissenschaft schwindet. Das ist nicht nur einer immer komplexeren Forschung geschuldet, sondern auch der Art, wie wir – und unsere Volksvertreter – kommunizieren und wie wir uns informieren. In den letzten Jahrzehnten fällt es dem Menschen– auch unter dem Einfluss der modernen Informationstechnologien – immer schwerer Vertrauen zu fassen, wenn es um die Frage geht, was Wahrheit oder Lüge, Illusion oder Realität sein könnte.
In einer Zeit, in der der öffentliche Diskurs von Populisten zunehmend polarisiert und durch Lügen zerstört wird, stellt sich die für uns doch sehr existentielle Frage, wie wissenschaftliche Erkenntnisse in einer demokratischen Gesellschaft vermittelt und verstanden werden können.
Die Wissenschaft muss, so zumindest meine Erkenntnis, wieder „populär“ werden, sie muss ein Stück „Populärwissenschaft“ sein, den oft beschworenen Elfenbeinturm verlassen und einfach und verständlich sprechen lernen.
Komplexe wissenschaftliche Themen einer breiten Öffentlichkeit zugänglich zu machen, um dieser Bildung zu vermitteln, ist aber gar nicht mehr so leicht. Denn der Populismus bedient sich irreführender Argumente, um emotionale Reaktionen zu erzeugen und ideologische Ziele zu verfolgen. Er verhöhnt und verspottet die Wissenschaft sogar, wie wir in den letzten Jahren leidvoll erfahren mussten. „The professors are the enemy“, sagte der neu gewählte US-Vizepräsident J.D. Vance. Nicht zuletzt in der Corona-Zeit haben wir das erlebt.
Angesichts der rasanten wissenschaftlichen Fortschritte in Bereichen wie Klimawandel, Gentechnik und künstlicher Intelligenz ist es aber für uns alle, die wir politische Entscheidungen treffen, von nahezu existentieller Bedeutung, fundiertes Wissen über eine Vielzahl von Themen zu besitzen.
Dafür brauchen wir Wissenschafter, die ihre Erkenntnisse verständlich kommunizieren können. Gerade auch in jenen öffentlichen Arenen, in denen die Bevölkerung ihre politische Meinung formt – im Netz.
Hier entsteht ein Dilemma. Um wissenschaftlich Karriere machen zu können, müssen sich viele Kollegen auf ihre Publikationen in Fachjournalen konzentrieren, statt mit ihren wichtigen Erkenntnissen auch an die breitere Öffentlichkeit zu treten. Dort wird eine komplizierte und für den Laien zunehmend unverständliche Fachsprache gesprochen.
Wissenschafter, so mein Appell, müssen aber auch (wieder) lernen, die Bevölkerung und auch die Politik für ihre Themen zu begeistern. Sie müssen Diskurse, ja auch Streit anregen – in allgemein verständlichen Worten. Sie müssen nicht nur „Wissen schaffen“, sondern das Vertrauen gegenüber der Wissenschaft wieder stärken. Also im guten alten Sinne: aufklären.
Wissenschaft, die gehört werden will, muss daher auch „Populärwissenschaft“ sein. Das bedeutet nicht, dass Experten ihre Erkenntnisse populistisch zuspitzten. Sondern dass sie lernen, verständlich darüber zu erzählen. Ein Wissenschafter muss im besten Fall ein „public intellectual“ sein. Um in meiner Welt zu bleiben: ein Sachverständiger hat nicht nur ein nach den Kriterien der Wissenschaft erstelltes Gutachten zu verfassen, er muss auch fähig sein, es Laienrichtern „auszudeutschen“.
Populärwissenschaftliche Formate – so mein Appell – müssen in Zukunft verstärkt eine Brücke zwischen der Fachwelt und der allgemeinen Öffentlichkeit bilden. Legen wir den Pessimismus daher kurz zur Seite: Auch die neuen Medien – Youtube, Social MediaPodcasts – bieten völlig neue faszinierende Möglichkeiten, wissenschaftliche Erkenntnisse in einer verständlichen und ansprechenden Weise darzustellen, ohne dabei die Komplexität der Themen zu vernachlässigen!
Wir Wissenschaftler können uns auch verstärkt der Wissenschaftsjournalisten bedienen, die in der Übersetzung unseres Fachjargons in eine allgemein verständliche Sprache geschult sind. Viele von ihnen tragen dazu bei, das wissenschaftliche Verständnis und die kritische Reflexionsfähigkeit der Bevölkerung zu stärken.
Populisten nützen das Unwissen, die Unsicherheit und das geschürte Misstrauen gegenüber der Wissenschaft aus. Populisten setzen auf einfache, oft emotional aufgeladene Botschaften, die sich gegen die „Eliten“ richten – wozu dann auch die Wissenschaftler gezählt werden. Wissenschaft wird in diesem Kontext oft als undurchschaubar, elitär oder gar korrupt und manipulativ dargestellt. Indem wissenschaftliche Erkenntnisse in Frage gestellt oder verzerrt wiedergegeben werden, versuchen populistische Akteure, ihre politischen Agenden zu stützen.
Soziale Medien spielen dabei eine immer größere Rolle. Sie bieten einen fruchtbaren Boden für die Verbreitung von Halbwahrheiten und Verschwörungstheorien. Der Algorithmus-basierte Aufbau dieser Plattformen bevorzugt Inhalte, die starke emotionale Reaktionen hervorrufen – eine Taktik, die der Populismus meisterhaft beherrscht. Wissenschaftliche Inhalte hingegen, die oft differenziert und komplex sind, finden in diesem Umfeld weniger Anklang.
Hier sind Wissenschaftsjournalisten, Autoren und Kommunikatoren gefordert, innovative Wege zu finden, um die Wissenschaft in der Öffentlichkeit präsenter zu machen. Storytelling, visuelle Aufbereitung und die Einbindung von interaktiven Elementen können dabei helfen, wissenschaftliche Inhalte zugänglicher und attraktiver zu machen. Darüber hinaus ist es wichtig, die Medienkompetenz der Bevölkerung – auch der Älteren! – zu stärken, damit Menschen besser in der Lage sind, zwischen fundierter Information und populistischen Parolen zu unterscheiden. Bildungssysteme für alle Altersschichten sollten verstärkt darauf abzielen, kritisches Denken und wissenschaftliche Methoden zu vermitteln.
Insgesamt muss der Kampf zwischen Populärwissenschaft und Populismus ein zentraler Aspekt der modernen Wissensgesellschaft bleiben. Es geht um nicht weniger als die Frage, welche Rolle Wissen und Vernunft in der Gestaltung unserer Zukunft spielen sollen.
Die Wissenschaft hat das Potenzial, den Populismus zu entkräften, indem sie die Menschen befähigt, selbstständig zu denken und die Welt in ihrer Komplexität zu verstehen. Dies erfordert jedoch ein kontinuierliches Engagement und innovative Ansätze in der Wissenschaftskommunikation. Aude sapere!
Christian Reiter ist Österreichs bekanntester Rechtsmediziner. Gemeinsam mit Florian Klenk bespielt er den Falter-Podcast „Klenk+Reiter“, der zu den erfolgreichsten Online-Produktionen Österreichs zählt. Darin berichten sie über die spektakulärsten Fälle der österreichischen Kriminalgeschichte der vergangenen 40 Jahre, aber auch über historische Fälle, musikalisch begleitet von Ernst Molden. Bei Zsolnay erschien 2024 „Über Leben und Tod“, das sehr lesenswerte Buch zum Podcast.