Anna Wexberg-Kubesch

Vor über drei Jahren startete Anna Wexberg-Kubesch ein Projekt: Die Gestaltung von 15.000 Karten, reprasentativ für 15.000 ermordete jüdische Kinder im KZ Theresienstadt. Heute sind alle Karten wieder bei ihr und werden noch bis 30.01.2019 in der Volkshalle des Rathauses präsentiert. Im Ballmagazin hat sie über ihr Projekt gesprochen:

Die Kunst des Nie-Vergessens

Text: Katharina Kropshofer

Anna Wexberg-Kubesch hatte sich schon seit längerem mit der Schoa auseinandergesetzt. Insbesondere mit jüdischen Kindern, die innerhalb der Schoa-Forschung oft unbeachtet bleiben. Bisher waren es Bücher und akademische Texte gewesen, in denen sich die Historikerin und Psychotherapeutin mit Fragen dazu befasste. Doch die Auseinandersetzung mit Kindern im Konzentrationslager Theresienstadt verlangte nach einem neuen Format.

Theresienstadt. Das Vorzeige-Ghetto der Nazis, von vielen als „Wohlfühlghetto“ beschrieben. Ein Begriff, der unangenehm in den Ohren nachklingt und ein Ort, der für Wexberg-Kubesch eine besondere und auch besonders schreckliche Symbolik hat. 1,5 Millionen jüdische Kinder und Jugendliche wurden während der Schoa ermordet, ein Prozent davon, also etwa 15.000 zwischen 1942 und 1945 in oder nach der Deportation von Theresienstadt in Vernichtungslager. Nur 150 von ihnen überlebten. Theresienstadt ist das einzige Konzentrationslager, in dem Kinder über einen längeren Zeitraum interniert waren. In anderen Konzentrations- oder Vernichtungslagern wurden sie sofort ermordet.

 Parallelen durch die Zeit

Wie also umgehen mit einem Thema, dem man eigentlich nicht gerecht werden kann? Wie etwas aufarbeiten, das man vielleicht lieber vergessen möchte und das für viele nur noch aus Bildern in Geschichtsbüchern besteht? „Ich wollte zuerst ein Buch darüber schreiben“, erzählt Wexberg-Kubesch, „aber dann habe ich mich gefragt, wer die Zielgruppe sein soll und dachte, dass ein anderes, einerseits aktiveres und andererseits auch niederschwelligeres Format passender sein könnte.“

Einige Gedankenspiele und eine Vorliebe für kleine, handliche Formate, brachten sie schließlich zu der Idee: Was, wenn man repräsentativ für jedes jüdische Kind im Lager eine Postkarte schreiben würde? Die Idee reifte weiter: 15.000 Karten sollten verteilt und von vielen Menschen individuell gestaltet werden, um dann wieder zu ihr zurückgesendet zu werden. Jede von ihnen wurde gestempelt und trug ab sofort die markante Aufschrift: „never“, „forget“, oder „why?“.

Repräsentativ blieb jedoch nicht nur die Zahl der Karten. Auch andere Dinge wurden in der Ausführung zu Parallelen zwischen den Zeiten und Orten. Alle Materialien waren bewusst gewählt: Die Karten, die von der Haptik an Aktendeckeln aus den 40er Jahren erinnern sollten. Grob, kratzig, mit einem Loch in der Ecke, denn schon damals dachte Wexberg-Kubesch voraus und sah die Karten bereits aufgefädelt als Installation vor sich. Genauso wie die Schrift der Stempel und die Paketschnüre.  „Aus der Zeit des Nationalsozialismus gibt es den Begriff des Schreibtischtäters, also diejenigen, die nie eigenhändig Menschen ermordet haben, wie beispielsweise Adolf Eichmann, aber durch ihre Entscheidungen und durch Verwaltungstätigkeit zu Tätern wurden. Um diesen Akt im Bewusstsein zu erhalten, habe ich jede Karte einzeln gestempelt. Dieser Akt des Stempels auf so einer Art Papier fühlte sich auch wie etwas sehr finales an.“ Die Karten wurden aus der Hand gegeben, die Menschen, die sie erreichten, wurden zu Gestaltern, Wexberg-Kubesch selbst zur Verwalterin.

Die Rückkehr

Menschen jeder Altersgruppe aus Ländern wie Deutschland, Israel, USA oder Japan gestalteten eine oder mehrere Karten. Das Ergebnis war teils überraschend, teils in Anlehnung an tagesaktuelle Geschehnisse, nie problematisch, teils persönlich und auch intuitiv. So auch die 70. Karte: „Ich dachte eigentlich, dass alle nur Texte verfassen würden. Als dann die erste nicht mit Text gestaltete Karte kam, bin ich zuerst erschrocken, war jedoch schnell fasziniert.“ Eine Frau hatte Kinderpflaster auf die Karte geschickt und dann mit rotem Buntstift durchgestrichen. Eine andere Frau hatte die Karte ihrem ungeborenen Baby gewidmet. „Jedes Mal wenn Post kam, war ich sehr aufgeregt. Ich musste ja aufpassen, dass nichts verloren geht – kein Kind, keine Karte – dass keine kaputt wird und auch, dass keine abwertenden Dinge passieren. Ich war in der Zeit wie die Mama aller Karten.“

Etwa drei Jahre dauerte es  – so lange wie auch Theresienstadt ein Konzentrationslager war – bis alle Karten wieder ihren Weg zurück zur Initiatorin gefunden hatten. Zusätzlich hatte sie in der Zwischenzeit auch noch 2000 weitere Karten bestellt „Es war einfach utopisch zu glauben, dass keine verloren geht.“ Schlussendlich gelangten 16.338 Stück zurück zu ihr „Die  extra Karten habe ich dann noch den Kindern von Byalistok gewidmet, die auch nach Theresienstadt deportiert wurden“, erklärt die 57-jährige Wienerin. So waren am Ende etwa die Hälfte der Karten mit Bildern, Fotos oder Objekten gestaltet, der Rest beschrieben.

Auch weitere Schlüsse sind zulässig, erzählt Wexberg-Kubesch, die, wenn man sie als Künstlerin bezeichnet, noch etwas überrascht über ihre neue Rolle wirkt: „Ich glaube, dass im Moment ein Paradigmenwechsel stattfindet, in dem, was Erinnerungskultur können soll oder auch nicht mehr kann. Wie in den 80er und 90er Jahren Erinnerungskultur umgesetzt wurde, ist heute nicht mehr zeitgemäß.“ Der Fokus liege heute vielmehr darauf, auf Empathie statt auf reine Betroffenheit zu fokussieren. Für die Auseinandersetzung mit der Schoa, war es wichtig zu sagen, dass es für die Gestaltung der Karten kein richtig, kein falsch, kein schön, kein hässlich gibt. „Indem du dich dazu bereit erklärst, etwas auf die Karte zu bringen, bist du automatisch Teil eines individuellen und kollektiven Erinnerungsprozesses. Das ist das, was zählt.“

Ein unfertiger Ort

Sachen, zu denen man einen persönlichen Bezug herstellt und selbst gearbeitet hat, so heißt es, kann man sich besser merken. Die Nationalsozialisten hatten Theresienstadt gegründet, um – hätte jemand gefragt – zeigen zu können, wo viele der Juden hingekommen waren. Nach außen hin gab es dort Kultur, älteren Leuten wurde eine Art „Seniorenresidenz“ versprochen. Doch all das war inszeniert. Statt 5000 Leuten, wie zu Ursprüngen der Stadt, lebten hier plötzlich 60.000; es gab es eine jüdische Selbstverwaltung, doch diese wurde von den Nazis eingesetzt, um der jüdischen Bevölkerung für die Verwaltung ihrer Not die Verantwortung zuzuschieben. „Nach 1945 hat diese Propaganda noch weitergewirkt und es herrschen auch heute noch viele unrichtige Vorstellungen über diesen Ort. Die Bedeutung dieses Ortes für die Ermordung der europäischen Juden ist noch nicht fertig erforscht.“ So wie Gleise, auf denen Züge voller Juden ins Lager fuhren, noch immer durch die Gärten von Auschwitz führen, findet man auch heute noch Erinnerungen im wieder bewohnten Theresienstadt, Terezín, wie der Ort auf tschechisch heißt. Anna Wexberg-Kubeschs Projekt hat die Erinnerungen deshalb wieder präsent gemacht und eingeprägt.

Am Schluss bleibt die Frage, wie man sich in Zukunft an die Karten erinnern soll? Die Projektleiterin hat hierfür eine Homepage mit einer Art virtuellem Fotoalbum aufgebaut, in dem jede Karte reproduziert und hochgeladen wurde. Dazu kommt, dass die Karten ab dem Tag nach dem Ball für drei Tage in der Volkshalle des Rathauses zu sehen sein werden. Auf riesigen Strukturen, auf denen sonst Lautsprecher für Bühnen stehen, sollen alle 16.000 Karten in drei Metern Höhe montiert werden. „Der Raum, die Wände sind leer. Alles was man sieht passiert über den Köpfen“, so Wexberg-Kubesch „Wie ein Sternenhimmel.“ Lediglich ein Klangteppich und eine Leinwand, auf der die Karten einzeln gezeigt werden, sollen am Rande noch dazukommen, um den Erinnerungsprozess zu unterstützen. „Als ich mit einer Gruppe Jugendlicher aus Theresienstadt zurückgekehrt bin, ist der Begriff „Brücke über Raum und Zeit“ entstanden. Und wer weiß: vielleicht interessieren sich ja Forscher in der Zukunft einmal dafür, wie wir uns heute an diese Zeit erinnert haben.“

Anna Wexberg-Kubesch wurde im September 2018 mit NEVER/FORGET/WHY? der Europäische BürgerInnenpreis verliehen. Auf der Seite http://www.neverforgetwhy15000.at/ kann man sich durch das virtuelle Fotoalbum klicken.

Foto: (c) Privat