Ingeborg Zerbes: Vermittlung ohne Anweisung „von oben“

Foto: Universität Wien/Barbara Mair

Wissenschaft – nicht nur meine eigene, sondern auch und vielleicht sogar vor allem die Naturwissenschaften – bedeuten für mich die Möglichkeit, in einer immer weniger übersichtlichen, immer weiter differenzierten und zunehmend konfliktbeherrschten Welt zu einer rational begründeten Bewertung zu gelangen: rational im Sinn wissens- statt gerüchtebasiert, rational im Sinne von ausgewogen, rational im Sinne der Einbeziehung anderer Zugänge, rational im Sinn von (möglichst) objektiv statt an individuellen Einzelinteressen orientiert.

Versuchen zu vermitteln kann ich freilich nur meine eigene Wissenschaft, die Rechtswissenschaft. Da ich als (Straf-) Rechtswissenschaftlerin das große Glück habe, an der Universität Wien tätig sein zu dürfen, gelange ich geradezu automatisch in die Rolle einer Vermittlerin. So richte ich mich einerseits über die Lehrveranstaltungen an Studierende, andererseits habe ich auch die Aufgabe, mein Team, bestehend aus Dissertant*innen, auszubilden. Die Universität gewährt mir darüber hinausgehend, dass ich mein Wissen unabhängig und ohne Vorgaben „von oben“ der Öffentlichkeit zur Verfügung stellen kann. Aufgrund dieser Freiheit kann ich in häufig populistisch, einseitig und undifferenziert geführten Debatten zu strafrechtlichen Fragen die sachlichen Argumente sichtbar machen.

Ingeborg Zerbes ist Professorin für Strafrecht und Strafprozessrecht am Institut für Strafrecht und Kriminologie an der Universität Wien. Zuvor war sie an den Universitäten Basel und Bremen tätig. Zerbes leitete sie die Untersuchungskommission zum Terroranschlag in Wien 2020 „zur Aufarbeitung möglicher Missstände im Vorfeld des Anschlags in der Wiener Innenstadt“. Seit April 2021 ist Zerbes stellvertretende Rechtsschutzbeauftragte der österreichischen Justiz.