Karl Regensburger: Tanzen am Ende der Welt

© Nikolaus Similache

Die US-amerikanische Anthropologin Anna Tsing landete mit ihrem 2015 erschienenen Buch „Der Pilz am Ende der Welt“ etwas wie einen Welterfolg – und ich hoffe, das geneigte Wissenschaftsballpublikum stimmt mir hier zu – einen wissenschaftlichen Welterfolg. „Über das Leben in den Ruinen des Kapitalismus“ lautet der Untertitel der deutschsprachigen Übersetzung und ja, dieses Leben und Überleben ist ohne Wissenschaft – mithin ohne vielfältig und breit vernetzte, hervorragend dotierte, respektierte und beharrliche Forschung, ohne ihre Umsetzung und ihre Kommunikation – schlicht nicht vorstellbar. Das ist so gewiss wie, sagen wir, die gelungene Landung nach einem Grand Jeté.

Der Pilz „am Ende der Welt“, dem Tsing hier von den zerstörten Wäldern Oregons über Finnland bis Japan und vom Sammeln über seine Lieferketten bis hinein in japanische Genlabore folgt, ist der Edelpilz Matsutake, dem schon seit dem 8. Jahrhundert Gedichte gewidmet wurden. Für mich als leidenschaftlichen Festivalmacher, der sein Leben zu einem großen Teil wiederum dem Tanz, seinen Künstlerinnen und Künstlern sowie dem Publikum gewidmet hat, war es nun umso schöner zu entdecken, dass Anna Tsing ein Kapitel ihres Buchs mit „Tanzen“ überschrieben hat.

„Pilzsucher lernen den Matsutake-Wald auf ganz eigene Weise kennen: Sie halten Ausschau nach den Lebenslinien der Pilze. Solcherart im Wald unterwegs zu sein kann als Tanz aufgefasst werden: Den Lebenslinien wird mit den Sinnen, mit Bewegungen und Orientierungen nachgespürt. (…) Es ist ein Tanz, der hier mit zahlreichen anderen tanzenden Leben vollführt wird.“

Nun sind nicht alle Pilzsuchenden Wissenschaftlerinnen, und auch nicht alle Tanzenden. Dass aber jede gute Wissenschaft, wie der Tanz, mit allen Sinnen und vor allem auch mit Sinnlichkeit und mit Leben in vielfältigen Gemeinschaften zu tun hat, das wollen wir doch nicht vergessen – und vor allem: so oft es geht gebührend und leidenschaftlich feiern! Auf eine rauschende Wissenschaftsballnacht!

Karl Regensburger gründete gemeinsam mit dem brasilianischen Tänzer Ismael Ivo 1984 die Internationalen Tanzwochen Wien. 1988  in ImPulsTanz-Festival umbenannt wird es seither von Regensburger geleitet. Heute steht das Festival für Performances, Workshops und Research-Projekte. Mit einem jährlichen Programm von rund 50 Produktionen, die an traditionellen Spielstätten gezeigt werden, und mehr als 200 Workshops, bei denen Tanz in all seinen Facetten zu erleben ist und unter anderem auch im öffentlichen Raum stattfinden, zählt ImPulsTanz heute zu den wichtigsten Festivals für zeitgenössischen Tanz und Performance weltweit.